Bis zum 20. April 2020 war es unvorstellbar. WTI-Erdöl-Futures mit Verfall Mai 2020 an der NYMEX handelten plötzlich bei bis zu minus 40 US-Dollar pro Kontrakt. Der Spot-Preis von WTI war zwar über die vergangenen Tage ebenfalls gefallen, handelte aber immer noch um die plus 15 US-Dollar pro Barrel. Ein Unterschied von 55 US-Dollar zwischen Future und Spot, und das einen Tag, bevor der Mai-Future aufhörte an der Börse handelbar zu sein. Was war geschehen?
Konvergenz fand nicht statt
Normalerweise ist es so, dass sich der Preis des Futures gegen Laufzeitende immer näher jenem des Spot-Preises annähert, bis beide am Laufzeitende des Futures identisch sind. Man nennt dieses Phänomen Konvergenz. Ansonsten könnten Händler risikolosen Gewinn erzielen. Doch bei Rohöl ist die Sache mit der Arbitrage etwas komplizierter. Schließlich benötigt man, um Rohöl physisch zu handeln, die entsprechende Infrastruktur aus Pipelines, Öltankern und Lagerstätten. Die laufenden Kosten („Cost of Carry„) sind gerade bei Erdöl sehr hoch, sowohl was Lagerhaltung als auch Transport betrifft. Und noch ein Erschwernis: WTI-Futures werden physisch gesettelt, also mit echtem Öl, und Lieferort ist Cushing im US-Bundesstaat Oklahoma. Das macht es für die meisten Marktteilnehmer, die nicht am Öl selbst sondern nur an der Preisentwicklung interessiert sind, zudem schwer bis unmöglich, ihre WTI-Futures auch tatsächlich bis zum Laufzeitende zu halten. Denn was sollte ein ETF (Exchange Traded Fund) mit einer Million Barrel Rohöl, das in Cushing lagert, oder ein Family Office aus der Schweiz mit Öl in den USA?
Futures werden gerollt. Bisher immer ohne Probleme.
Aus genau diesem Grund schließen alle Händler, die nicht am Erdöl selbst sondern nur der Preisentwicklung interessiert sind, kurz vor Laufzeitende des Futures ihre Positionen, indem sie die Gegenposition eingehen. Derjenige, der zuvor den Future Long war und Erdöl zum Termin kaufen sollte, verkauft die gleiche Anzahl an Kontrakten, und derjenige, der die Kontrakte Short war und damit Erdöl zum Termin liefern sollte, kauft Kontrakte. Damit sind ihre jeweiligen Positionen auf null gesetzt und sie haben keinerlei Verpflichtungen mehr aus diesem Monat. Stattdessen rollen sie ihre Positionen in den nächsten Futures-Kontrakt, indem sie dort Kontrakte kaufen oder verkaufen. In unserem Fall wollten viele Händler ihre Long-Positionen im auslaufenden Mai 2020 WTI-Kontrakt verkaufen und den Juni 2020 WTI Kontrakt kaufen. Bisher waren solche Rollgeschäfte auch immer ohne Probleme möglich. WTI-Kontrakte zählen mit täglich etwa 1,2 Millionen gehandelter Kontrakte mit zu den liquidesten Finanzinstrumenten weltweit.
Futures Rolle trifft auf volle Öllager
Doch am 20. April 2020 war alles anders. Der Erdölpreis war seit Wochen unter Druck. Durch die globale Corona-Krise und den damit verbundenen wirtschaftlichen Stillstand gab es bereits einen deutlichen Nachfrage-Schock. Hinzu waren im März die offen ausgetragenen Streitigkeiten zwischen Russland und Saudi Arabien gekommen, die sich gegenseitig eine Preisschlacht lieferten und die Preise für Rohöl auf Talfahrt schickten. Als dann Mitte April 2020 die Einigung zwischen Russland und der OPEC für Förderbeschränkungen ab Mai kam, hatten viele Spekulanten steigende Preise erwartet. Doch der Einbruch der Nachfrage war dramatischer als zunächst gedacht. Hinzu kamen extrem volle Lager. Selbst das gigantisch große Lagervolumen von Cushing in Oklahoma war an der Kapazitätsgrenze, und vor Californien ankerten bereits über 30 Öltanker voll beladen mit Rohöl, das niemand wollte. Und so passierte es am 20. April 2020 zum ersten Mal, dass es keine Käufer für die vielen Verkaufsangebote gab.
Die Verkäufer mussten verkaufen. Oder Erdöl in Cushing annehmen.
Doch die Käufer mussten verkaufen, ihnen blieb keine andere Möglichkeit. Ansonsten hätten sie im Mai physisch WTI Erdöl in Cushing entgegen nehmen müssen, entweder über eine Pipeline oder in einem Lager. Reine Finanzinvestoren haben weder Zugang zum einen noch zum anderen, und auf die Schnelle einen Öltanker mieten und diesen irgendwo ankern lassen ist auch keine Alternative für Spekulanten, ETFs, Fonds und Privatanleger. Sie waren zum Verkaufen gezwungen. Doch auf der Käuferseite war niemand, der die Futures haben wollte. Also fiel der Preis. Doch selbst zu zwei Dollar das Barrel wollte die Kontrakte niemand kaufen. Die Börse erlaubte daraufhin negative Preise. Panik brach aus, und der Preis sank bis auf minus 40 US-Dollar pro Barrel. Jeder Kontrakt steht für 1000 Barrel Öl. Für den Verkauf eines WTI-Mai-2020-Futures mussten am Tiefpunkt also 40.000 US-Dollar gezahlt werden. Eine verkehrte Welt! Die wenigen Käufer der Kontrakte nutzten die Notlage der gezwungenen Verkäufer sichtlich aus. Doch die normalen Gesetze des Futures Handels galten an diesem Tag nicht.
Rohstoff-Futures folgen anderen Risiken
In vielen Risikoanalysen werden alle Futures gerne mit ein und dem selben Modell bewertet und ihre Risiken einheitlich berechnet. Doch Rohstoff-Futures mit physischem Settlement unterliegen anderen Dynamiken als reine Finanzfutures wie der Bundfuture oder Währungsfuture. Hier lohnt es, die Basismärkte im Auge zu behalten, Dynamiken zu kennen und vor allem die Grenzen dessen, was im Extremfall möglich sein kann.